Montag, 7. Februar 2011

Buchauszug: Aus dem Leben des Grafen von Saint Germain - Der Elf mit dem blauen Helm

Magnum Opus

Der Graf zeigte uns eine Elfenbeinkugel, etwa von der Größe einer Haselnuss. Obwohl wir sie genau betrachteten und schließlich sogar mit Hilfe eines Vergrößerungsglases, konnten wir nicht die geringste Unterbrechung an ihrer Oberfläche entdecken. Jeder, der sie in die Hand bekam, musste sie unbedingt für eine vollkommene Kugel aus Elfenbein halten.

Der Graf legte sie auf seine offengehaltene rechte Hand und hielt die linke mit zusammengehaltenen Fingern über sie, dabei sprach er einige uns unverständliche Worte. Wer aber beschreibt unser Erstaunen, als die kleine Kugel sich plötzlich langsam zu drehen begann, so, als wolle sie eine ganz bestimmte Lage einnehmen. Dann lag sie wieder still. Vorsichtig hob der Graf sie aus der Höhlung der Hand, und nun ließ sie sich leicht in zwei Hälften auseinanderschrauben.

„Das nenne ich einen sicheren Verschluss“, rief Martin begeistert, und ich musste ihm voll beistimmen, „wer diesen Trick nicht kennt, wird wohl vergeblich versuchen, sie zu öffnen.“

In der Kugel befand sich ein feines graues Pulver, goldiggrün schimmernd. Der Graf tauchte einen feinen Faden mit der Spitze hinein. Es blieb so wenig an ihm hängen, dass man es kaum sehen konnte.

„Lasst uns beginnen!“, sagte er.

Wie er so dicht am Herd stand, von unten beleuchtet durch den rötlichen Schein der glühenden Kohlen, erschien er mir plötzlich viel älter als bei unseren abendlichen Gesprächen. Seine Züge waren die eines Menschen, der viel erfahren haben musste, Gutes und Böses, Schönes und Hässliches, Erhabenes und Niedriges, und der alles überwunden und in sich verarbeitet hatte zu einer Erkenntnis des Lebens, die viel tiefer sein musste als er sich im allgemeinen anmerken ließ. Es war, als habe er soeben eine Maske fallen lassen, die er trug, um sich seiner Umgebung anzupassen. Er blickte über den Athanor hinaus, als sähe er in eine weite Ferne. In diesem Blick lag Bitte, Demut, Glauben und Vertrauen zugleich. Er begann eine Anrufung zu sprechen, deren Wortlaut ich leider nicht behalten habe. Er empfahl uns und unser Werk der höchsten Gnade. Er bat um die Mithilfe eines Geistes, der vielleicht sein besonderer Schutzgeist war, und er rief die Geister der Natur, das Werk zu unterstützen. Er schloss mit den Worten: „Der Geist des Saturn aber, der auch der Geist des Bleies ist, möge sein Kind nun entlassen, auf dass es sich wandle und von nun an ein Kind der Sonne sei“.
Bei diesen Worten ließ er vorsichtig den Faden auf das ruhig 
fließende Blei fallen. Sofort war er durch die Hitze  –  als kleines Flämmchen aufleuchtend  –  verzehrt. Das Blei wallte auf  –  es begann heftig zu kochen.
Ein eigenartiges Tönen war plötzlich im Raum. Zuerst wie ein dissonanter Akkord, der sich langsam in eine schöne Harmonie wandelte.

Bläuliche Dämpfe stiegen aus dem Tiegel auf, wandelten sich schnell über tiefvioletten und roten zu goldigem Schimmer  –  und verschwanden.

Auf einen Wink des Grafen nahm Martin den Tiegel vom Feuer. Wir stellten ihn auf einen eisernen Amboss, damit er schneller abkühle. Als wir ihn dann umstülpten und hochhoben, stand vor uns ein Kegel von der Form des Tiegels.

Und dieser Kegel bestand aus reinstem, herrlich leuchtendem Gold!

Von seiner Oberfläche ging ein Flimmern aus, als sei er mit winzigen Brillanten besetzt. Mit dem Vergrößerungsglas konnte man deutlich sehen, dass tatsächlich die Oberfläche über und über mit winzigen Goldkristallen besät war.

„An den Kristallen können Sie stets das alchimistisch hergestellte Gold vom gewöhnlichen unterscheiden. Auch wenn es mehrfach umgeschmolzen wird, bleiben diese Kriställchen erhalten, wenn auch nicht in so großer Menge wie hier. Heben Sie das Stück auf als eine schöne Erinnerung an den heutigen Abend und an mich.“

Wir wollten das kostbare Geschenk, das viele tausend Dukaten wert sein musste, nicht annehmen. Aber der Graf lächelte nur: „Nehmen Sie es ruhig, was sollte ich damit? Mit diesem Inhalt meiner Elfenbeinkugel könnte ich mir viele hunderte gleicher Goldkegel bereiten, aber wozu? Ich könnte höchstens in Versuchung kommen, sie zu vergeuden, und schon das wäre ein Verstoß gegen die geistigen Bedingungen, die mit dieser transmutatio verknüpft sind.“

Die Kohlen hatten ihren glühenden Schein verloren. Nur hin und wieder zuckte eine Flamme auf und beleuchtete unser Laboratorium. Dann gingen wir hinauf und trennten uns. Aber noch lange konnte ich keinen Schlaf finden und musste über das Geschehene nachdenken. War ich doch Zeuge eines der rätselhaften Vorgänge gewesen, die uns so oft überliefert waren in uralten und neueren Berichten. Und die immer wieder als Täuschung hingestellt wurden von denen, die nicht dabei gewesen oder sich vergeblich bemüht hatten, den Vorgang zu wiederholen.

Wie sollte man erklären, was geschehen war? War doch das Blei einer von den Urstoffen der Natur, die bei allen chemischen Prozeduren, denen man sie aussetzte, stets unveränderlich blieben, und die wir deshalb auch die chemischen Grundelemente nannten.

Was aber war dieser wunderbare „rote Löwe“ für ein Stoff, der die Verwandlung des Bleies in Gold hervorrief und selbst nur als winziges Stäubchen aufgebracht wurde? Woher kam seine ungeheure Wirkung?

Alles das und vieles andere waren Fragen, die niemand beantworten konnte.

Aus dem Leben des Grafen von Saint Germain erzählt von Joachim Winckelmann in seinem spannenden Roman "Der Elf mit dem blauen Helm"(mehr...)

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