Ananda-Kutir
Ich bin in das Märchenreich des Kalifen von Bagdad geraten.
Seine Heiligkeit errät Gedanken und Wünsche. Er ist kein normaler
Mensch, sondern ein Übermensch. In der dritten Nacht, als ich vom
Satsang in der Dunkelheit nach meinem Kutir hinaufsteige, stürze
ich unversehens in eine Vertiefung und falle hin. Mein rechter Fuß
schmerzt. Er schwillt sofort an, und ich schleppe mich mühsam
heim. Der Fuß ist nicht gebrochen, sondern nur verstaucht. Auf ei-
ner Holzpritsche leide ich große Qual. Dieses Gestell ist nur dürftig
mit einem federgefüllten Unterbett bedeckt. Leider habe ich kein
Kopfkissen, so dass ich ganz flach liege, was ich nicht gewöhnt bin.
Ein weißes Linnen und eine grobwollene Decke vervollständigen
das Bett. Jede Bewegung des Fußes bereitet mir Pein. Irgendwie
überstehe ich auch diese Nacht. Früh am Morgen kommt plötzlich,
ohne dass jemand von meinem Unfall erfahren hat, der Gehilfe des
Doktors und erkundigt sich nach meinem Fuß. Er reibt mit einer
Salbe die schmerzende Stelle ein und verspricht, zweimal täglich mit
einem Bestrahlungsgerät zu erscheinen. Es ist mir schleierhaft, wie
der Arzt von meinem Unfall Kenntnis erhielt. Mir scheint, ich bin
umgeben von Augen, die alles sehen, sogar im Dunkel der Nacht.
Ich kann keinen Schritt laufen. Drei, vier Swamis fragen nach-
einander bei mir vor, was sie für mich tun können. Ich bin der
Meinung, dass Ruhe die beste Arznei sei. So lehne ich dankend alle
Anerbieten ab. Auf dem Bett sitzend lese ich laut in einem Buch
Sivanandas: Selbstverwirklichung. Gerade denke ich an ein gutes
Frühstück mit Semmeln, Konfitüre, Butter und duftendem Kaffee,
und wie herrlich es wäre, sich daran zu erlaben, da naht im glei-
chen Augenblick ein dunkelbrauner Jüngling. Es ist der persönliche
Diener des Paramahamsa. Mit lautem OM-Gruß überreicht er mir
eine große Schachtel Vitamin-Biskuits, die für eine Woche reichen,
im Auftrag des Meisters. Seine Swamis und der Doktorgehilfe ha-
ben inzwischen über mein Befinden Bericht erstattet, doch bin ich
überzeugt, dass er in tiefer nächtlicher Meditation meinen Unfall
von Anfang an wusste, ja voraussah. Ich besinne mich auch, dass
er an jenem Satsang-Abend, als ich stürzte, als Thema behandelte:
Jede Krankheit und jedes Unglück, jedes Leid und jeder Unfall sind
eine karmische Reinigung der Seele. Wer körperliche Krankheiten
gewaltsam heilen will, verlagert den Schmerz auf die Seele! Es ist
Gesetz, dass jeder sein Karma abtragen muss.
Sivananda strahlt, wenn er Sympathie und Glauben spürt, Liebe
und Selbstlosigkeit aus. Er opfert sich für die Diener und wahren
Anhänger Gottes. Wenn er aber fühlt, dass man misstraut, dann
schweigt er und bleibt hoheitsvoll reserviert. Er versucht nicht, je-
manden zu überzeugen, von dem er weiß, dass er noch nicht reif
dafür ist.
Probeweise knipse ich unter Mithilfe eines Assistenten, des Foto-
Swami Sharadananda, eine Serie von acht Bildern: Wasserträger am
Ganges, ein Boot mit Pilgern, den Vishvanath-Mandir, den Tempel
des Dattatreya und andere. Wer mit der Fähre über den Strom zum
gegenüberliegenden Ufer gelangen möchte, wird kostenlos beför-
dert. In dieser gottverrückten und gottverzückten Gegend ist vieles
kostenlos, wenn es mit Religion zusammenhängt. Es kann aber auch
passieren, wenn man einem tüchtigen, gerissenen Händler in die
Hände fällt, dass man als «religiöser Mensch» mehr gerupft wird
als üblich. Gold und Gott hängen oft dicht zusammen.
Auch Swamis haben Fehler. Es sind Menschen wie du und ich.
Doch streben sie danach, ihre Mängel zu überwinden. Wenige Maha-
rishis sind so groß, dass man sie als lebendige Gottheit verehren kann.
Der Gita-Bhavan-Ashram mit seinen Skulpturen über der Ein-
gangspforte, der Swarg-Ashram mit seinem hohen, runden und
weithin sichbaren Tempel, und der Param-Arth-Niketan-Ashram mit
seinen modernen, schlossähnlichen Gebäuden und Ufertreppen, wir-
ken wie steinerne Träume aus Tausendundeiner Nacht.
Ich weiß, dass ich harten Prüfungen entgegengehe. Manche Fall-
stricke werde ich zerreißen müssen. Man wird mich testen. Man wird
mich zu weltlichen Vergnügungen locken, um meine Ernsthaftigkeit
zu erkennen. Viele Sucher kommen hierher und wünschen Erleuch-
tung. Viele werden enttäuscht, weil sie nichts finden als scheinbar
ganz normale Menschen. Aber hinter der Fassade der Alltäglichkeit
und den menschlichen Schwächen verbirgt sich das Geheimnis. Es
enthüllt sich nur scharfen Augen, metaphysischen Sinnen und hohen
Ideenträgern. Der Laie und Fremdling sieht nur Tempel, primitive
Hallen, einen Guru Sivananda, der ein braver alter Mann zu sein
scheint. Er sieht eine schmutzige Küche, ein Büro mit emsigem Ge-
triebe, hört Klatsch und böswillige Gerüchte. Vielleicht sieht er auch
einen um Geld bettelnden Swami oder einen tobsüchtigen Sannyasin.
Vielleicht ist ihm alles zu modern, zu nüchtern, zu banal. Das Ver-
borgene wartet nicht in der Gosse, nicht im Schlamm der eigenen
Unzulänglichkeit. – Der Acker muss gepflügt werden, eh der Sämann
naht, und der Samen reifen, bevor die Frucht sich zeigt.
Der Fuß ist noch nicht ganz in Ordnung, aber ich kann wieder
gehen. Meine verschwitzte Wäsche habe ich im Ganges gewaschen.
Das ist sehr einfach: Die Hemden und Socken schwenke ich meh-
rere Male im Wasser herum, reibe sie gegeneinander und lasse sie
dann patschnass in der starken, ultraviolettreichen Sonne auf dem
Felsgestein trocknen. Dort bleicht die Wäsche schnell und mühelos.
Die Japaner sagen: «Sonne heilt und säubert!» Ja, Sonne bräunt die
Haut, zieht Pickel heraus und reinigt Poren und Eingeweide. So ähn-
lich ist es auch mit der Wäsche. Die konzentrierte Ultra-Strahlung
Rishikeshs, vereint mit dem seit Jahrtausenden als heilkräftig, des-
infizierend und säubernd erkannten Gangeswasser, verhelfen auch
meinen Hemden zu blütenweißer Frische. Chemiker haben das hei-
lige Gangeswasser untersucht. Man versuchte zu analysieren, war-
um dieses Wasser so gesund, so reinigend und heilig ist. Aber kein
Wissenschaftler ist bisher imstande gewesen, die eigentliche Ursache
festzustellen.
Ein Bummel nach dem nahen Rishikesh. Die Fülle der Eindrücke
muss ich erst verarbeiten.
So eigenartig es klingt: Obwohl der Tag um vier Uhr morgens
beginnt und um zehn Uhr abends endet, habe ich kaum Zeit übrig.
Der Tag ist ausgefüllt mit Arbeit und Andacht.
Viele der Swamis erheben sich bereits um drei Uhr in der Däm-
merung. Sie meditieren eine Stunde, dann nehmen sie am gemein-
samen Puja teil, das im Tempel des Vishvanath Mandir stattfindet.
Um sieben Uhr können Interessenten in der Halle des Gebetes Ha-
tha-Yoga-Lehrgänge mitmachen. Die steifen Muskeln werden durch
Heilgymnastik gelockert. Tag und Nacht findet man in der Bhajan-
Halle unermüdliche Sänger: Vor den Bildern Ramas und Krishnas
summen junge und alte Menschen «Hare Rama, Hare Rama, Rama
Rama Hare Hare – Hare Krishna, Hare Krishna, Krishna Krishna
Hare Hare!» Das ist ununterbrochenes Kirtan: Anruf an die Gott-
heit. Durch dieses fortwährende summende Rezitieren wird eine
harmonische kosmische Vibration erzeugt, die jeder Besucher der
Halle sofort wahrnimmt.
Von zehn bis zwölf Uhr erscheint Guru Sivananda im Office,
um die tägliche Post zu sichten, zu beantworten und zugleich den
Gästen seinen Darshan zu gewähren. Die Upanishaden oder Veden,
Puranas und Shastras behaupten: Fünf Minuten in Gegenwart eines
großen Erleuchteten genügen, um die Sünden und Irrtümer eines
vergangenen Lebens zu löschen. Darum ist der Darshan eines Hei-
ligen so wichtig für die Entwicklung der Schüler.
Nach dem Anblick des Meisters im Büro nimmt man je nach
Wunsch in der Küche oder im Kutir das Mittagessen ein. Die Boys
bringen auf Holztabletts die Speisen zu jedem Einzelnen. Nach der
Mittagsrast, die in der Hitze Indiens notwendig ist, geht man zu den
Vorlesungen der Jnana-Yoga-Kurse. Abends von sechs bis sieben
Uhr ist Dinner-Pause, von sieben bis neun wandelt man, sofern man
Lust hat, zum Sankirtan oder Satsang. Dort trifft man wieder Seine
Heiligkeit Sivananda, der in einem Liegestuhl halb ruht, halb sitzt.
Die bedeutendsten Yogis und Maharishis sind erkrankt. So auch
Swami Sivananda.
Der Laie fragt erstaunt, wieso das möglich ist, da doch Yoga Bä-
renkräfte, Gesundheit und langes Leben verleihen soll. Hier setzt das
Unbegreifliche ein. Ramakrishna, eine Inkarnation göttlicher Macht
im 19. Jahrhundert, war an Halskrebs erkrankt. Seine letzten Tage
waren qualvoll für seine ergebenen Schüler, da sie den Meister so
fürchterlich leiden sahen. Sri Ramana Maharishi von Arunachala
litt ebenfalls die letzten Jahre an Krebs. Sein Arm war zerfressen.
Sivananda ist zuckerkrank. Er bewegt sich langsam an einem Stock
zwischen Office und Kutir hin und her.
Das innere Feuer der Göttlichkeit zerstört, wenn die Stunde ge-
kommen ist, den Bau des Leibes. Es sengt die Balken des Skeletts an,
bricht zur Flamme aus und höhlt das Gerüst des Körpers von innen
her aus, bis der Mensch, die Seele, dem Leib entflieht, ihn zurücklässt
und in den kosmischen Universalkörper heimkehrt. Wer das göttli-
che Feuer in sich verspürt, will nicht länger in diesem Erdenleben
verharren. Er hat Sehnsucht nach einem höheren, astralen Sein, oder
nach der endgültigen Auflösung im Ozean der Unendlichkeit.
Wir gewöhnlichen Menschen kleben am Irdischen. Wir wehren
uns, und sträuben uns mit Händen und Füßen, diesen morschen Leib
aufzugeben. Wir pflegen und hätscheln den Leib. Aber diese großen
Seelen sind Jivanmuktis, Befreite, die unsere Erde als kurze Durch-
gangsstation benutzen. Je schneller der Leib zerbricht, desto eher ist
die Seele auf ewig mit Parabrahman, dem höchsten Schöpfer, vereint.
Die Duldsamkeit und Großzügigkeit Sivanandas sind grenzen-
los. Er verzeiht auch dem schlimmsten Verbrecher. Jedes Laster ist
für ihn nur ein Umweg zu Gott. Jede Sünde ist ein Irrtum im Fleisch.
Jeder Hass endet für ihn in Liebe. Ich freue mich stets auf die Aben-
de des Sankirtan. Die heiligen, melodiösen Gesänge rufen zeitweise
ekstatische Zustände in mir hervor. Ich bin einem großen Prophe-
ten persönlich begegnet. Ich höre, dass er viel bewundert und viel
befehdet wird. Je höher ein Mensch steigt, desto weniger wird er
verstanden, desto weniger Naturen vermögen ihm zu folgen. Wer
die kalten Gletscher der Erkenntnis nicht umarmen mag, soll in den
Niederungen der Masse verharren. Dort braucht er nur nachzuplap-
pern, was andere sagen. Die letzte Wahrheit ist es nicht. Sie ist die
Wahrheit der Toren, die von Blinden geführt im Kreise laufen und
in den Abgrund fallen.
Ja, Sivananda ist so gütig, dass er keinem Gerüchtemacher den
Mund verbietet. Hysterische Frauen behaupten, dass sie mit ihm inti-
men Umgang gehabt hätten. Er lächelt nur verzeihend, denn er weiß,
dass manche Frauen gern Halluzination mit Vision verwechseln.
Man nennt ihn einen Geschäftemacher, weil er in einer Druckerei
Bücher herstellt. Enttäuschte Sucher, die glaubten, sie könnten durch
einen einzigen Darshan sofort in Samadhi geraten, sind verstimmt,
wenn sie hören, dass sie «harte Schulung» brauchen und lange Jahre
bis zum Ziel. Für diese Weisheit, die eben göttlichen Gesetzen eigen
ist, verurteilen sie den Rishi als «Scharlatan, der nichts kann». So ist
es immer. Nur wenige Auserwählte, die zum inneren Kreis gehören,
sind reif. Die Menge besteht aus «Schwätzern über das Geistige», die
auch nicht ein Jota verwirklicht haben.
Mein Karma und Sivanandas Einladung haben bewirkt, dass ich
an dieser Stätte der Beschaulichkeit weilen darf. Der unergründliche
Allmächtige hat mir den Weg gewiesen. Mein Freund, wenn du
wissen willst, was Religion ist, so reise nach Indien! Indien braucht
keine Missionare der Konfessionen, denn es ist seit Urzeiten das
größte Exportland für Religion. Fahre, fliege oder trampe nach dem
gottbesessenen Land der friedlichen, sanftmütigen Hindus, und du
wirst verwandelt durch Äthervibrationen, du wirst die Gnade des
Heiligen Geistes spüren, du wirst nach deiner Transformation in
Sympathie und Mitleid für alles Sein erschauern!
Buddha sagt: Es ging ein Schauder durch das All! Es war ein
Schauern um mich her!
Wenn du ein kalter Rechner bist, wenn deine Seele erstarrt ist,
dann fahre nicht dorthin, denn du wirst nur einen kribbelnden, wim-
melnden Menschenschwarm sehen, braunes Volk, arm, primitiv und
rückständig, und deine Reise nach diesem rätselhaften Wunderland
wird vergeblich und umsonst gewesen sein! Sehende Augen sehen
nicht, hörende Ohren hören nicht! – Wen die Götter verderben wol-
len, den schlagen sie zuvor mit Blindheit.
Mit hochgezogenen Beinen sitze ich auf der gemauerten Stein-
bank, die rings um zwei Blätterbäume im Gartenrondo vor meinem
Kutir gebaut ist. Gäste steigen die steile Treppe vom Ashram zum
Mandir empor. Drei der Ankömmlinge nahen sich mir und stellen
sich als Journalisten vor, die für mehrere Zeitungen Artikel verfas-
sen. Sie wünschen ein Interview. Mit Vergnügen bin ich bereit, mich
ausfragen zu lassen. – Jetzt, nach dem Lunch, das mir von meinem
Hausboy heraufgebracht wurde, kritzle ich Notizen in mein Tage-
buch. Die Journalisten sind gegangen, ein unbekannter Gentleman
und eine Dame nehmen auf dem Steinrondell Platz. Die Dame ist
die Frau des indischen Verteidigungsministers.
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